Er zeigt verstanden und eilt weiter. Zu Hause angelangt, reißt er Rock und Weste herunter, zieht ein dieckes Winterhemd an, streift hastig die Sachen wieder über, - Butterbrot in die Tasche, Händedruck: Auf Wieder- sehen!"
Von Ferne hört er bereits das schwere klappern der Radplatten des Boots- wagens, auf dem das Ruderrettungsboot -Reichspost-, von den Pferden aus dem Schuppen an der Rettungs Spoor im Westen des Dorfes gezogen, heran- naht. Eine Kolonne Matrosen marschiert vorüber, es sind die zur Hilfe kommandierten Soldaten. Und da ist auch schon der Wagen. Lamgsam, schwer- fällig, oft behindert durch die hohen, zusammengewehten Schneemassen, fährt er durch's Dorf nach Osten. Oft müssen alle mit Hand anlegen, ob- wohl Johann Albers seine besten Pferde vorspannte. Er selbst ist mit von der Kälte gerötetem Gesicht - anspornend, zupackend, Anweisungen gebend und helfend - mit dabei. Noch sind sie einigermaßen im Windschutz der Häuser und Dünen, dann biegen sie nach links ab. Unter lautem zurufen und Peitschenknallen geht es durch's Dünengelände, einen Sandpfad hinauf, noch eine Dünenkette - dann ist der Strand er- reicht. Der Zug dreht wieder nach Osten, um die Stelle beim - Großen Sloop - zu erreichen, die als eisfrei gemeldet wurde. Tosend braust der Oststurm über den Strand, schleudert den Männern und Pferden naßkalte, eisige Massen von Sand und Schnee entgegen. Nur langsam kommen sie vor- wärts. Schweißnaß sind die Pferde. Durchfroren, grimmigen Gesichts, stampfen die Männer dahin.
Soweit das Auge reicht: nur Eis und Eis. Zu seltsamen Formen geballt, starr, schneebedeckt, oft zimmerhoch, läßt der Eisgürtel keine Lücke, gibt den Weg nicht frei für das Boot, das dem Wrack da draußen zu Hilfe kommen will,- das bald zu Hilfe kommen muß, wenn es die Menschen, die, halberfroren, schon sehnlichst und vertrauensvoll Hilfe erwarten, nicht im Stich lassen soll!
Zwei Stunden lang quälen sie sich gegen den Sturm den Strand entlang nach Osten. Nirgends klafft eine Lücke in dem Eispanzer, der die Strand- linie begleitet. Vergeblich versuchen sie es hier und dort, wo das Eis weniger hoch, weniger dicht seine bizzaren Formen zeigt: dann sehen sie das Unmögliche ihres Beginnens ein und fahren - Zorn, Grimm und eine un- bändige Wut im Herzen - zurück. Sie hören Flugzeugmotoren. Ein Flugzeug, niedrig fliegend, umkreist sie, nimmt Kurs auf das Wrack, zeigt den ge- duldig dort Ausharrenden mit Leuchtraketen, daß Rettung naht.
Wer diese Rettungsmänner kennt, weiß was in ihnen, vor allem im Vormann des Bootes, vorgeht, als sie das Boot nach 1,5 stündigem Rückmarsch wie- der in den Schuppen bringen müssen.
Es ist jetzt 13 Uhr. Kapitän Kuper entläßt seine Mannschaft. Aber er gibt nicht auf. Er weiß, er wird den Versuch wiederholen, er und seine Männer!
Der Schneesturm ist jetzt so stark, selbst vom Hochstand kann nichts mehr beobachtet werden. Die Sicht ist auf 30 Meter zurückgefallen. Er sieht auf seine Armbanduhr und berechnet: um 14 Uhr 41 ist Hochwasser. Danach wird Ebbe einsetzen, die das Eis ein wenig vom Strand wegnimmt. Im Augenblick kann er nichts mehr unternehmen. Aber er wird die Gelegenheit, die Chance, mit eisernen Nerven abwarten - und dann handeln!
Ein Schluck Tee wird mir gut tun, denkt der Vormann und geht zum nahen ge- legenen Haus. Das Heim seiner Mutter.
Die kleine, zierliche Inselfriesin von Norderney empfängt ihn schweigend. Neun Jahre ist sie mit dem Vater auf eigener Tjalk zur See gefahren. Sie kennt die See und die Seeleute. Sie geht zur Küche, nimmt die feinschaligen blaugemusterten Teetassen aus dem Spind, greift nach dem immer auf dem Herd bereitstehenden Teetopf und gießt ein. Einen flüchtigen Blick wirft sie noch auf den Friedensspruch an der Wand:
De besten Stuurlui staan aan de Wal!" --Die besten Steuerleute stehen an Land--
Ein feines Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Nein, ihr verstorbener Mann, und Hillrich und Johann, ihre Söhne, das sind gewiß keine Steuerleute, die am Kai stehend zusehen, wie andere sich abmühen, und die dann ihre unsachgemäße Kri- tik laut und angeberisch von sich geben! Ganz gewiß nicht. Das sind Männer, die ihre Aufgabe ruhig, überlegt, mit starken Händen angreifen, nicht nach rechts oder links sehen, und mit der gleichbleibenden Ruhe und Entschlossen- heit des geborenen Seemanns arbeiten, bis sie ihr Ziel erreicht haben.
Der Vormann trinkt seinen Tee. Worte werden nicht viele gewechselt. Danach steht er auf, stülpt die blaue Kapitänsmütze mit dem Abzeichen der Rettungsgesell- schaft über den Schädel, und strebt durch das tanzende Schneetreiben dem eigenen Haus zu.
Eine Stunde später, um 14 Uhr, wird der Vormann von der Wetterwarte Langeoog an- gerufen. Die geliebte Zigarre aus dem Mund nehmend, hebt er den Hörer ab:
Das starke Schneetreiben wird gegen Abend nachlassen, die Sicht besser werden.
Kuper grinst und legt den Hörer wieder auf. Endlich, denkt er, nun kann ich et- was veranlassen! Er tut es sofort und verteilt seine Männer zur Beobachtung der Eisdrift und, wenn möglich, des Wracks auf den Dünen am Strand. Auch der Ret- tungsmann Wissmann geht auf Wetterwache. Vom Wrack bleibt jedoch nichts zu sehen, weder von den Dünen noch vom Marinehochstand aus.
Inzwischen sind auf den SOS-Ruf des gestrandeten Lotsendampfers hin Rettungs- maßnahmen von verschiedenen Stellen eingeleitet worden. Der Einsatz und die Folgen dieser Maßnahmen bleiben den Männern auf Langeoog wegen der durch den Schneesturm völlig verlorengegangenen Sicht zunächst unbekannt.
Auf -Rüstringen- ist die Steuerbordschlagseite so stark geworden , daß der Lotse v.Ostheim zeitweise auf der Backbordseite der Bordwand sitzend das Wei- tere abwartet. Es dauert lange, bis das Schiff, stetig tiefer in den Mahlsand gezogen, sich wieder auf ebenen Kiel stellt. Von der 26 Mann starken Besatzung befinden sich drei auf der hohen Back, ( das vordere, meist erhöhte Deck an der Spitze des Schiffes ) alle anderen, darunter die Lotsen, sind auf das Dach des Kartenhauses, das über der Brücke dicht vor dem Schornstein liegt, geklettert. Das Deck ist bereits von eisigem Wasser überspült. Die See schlägt mit der an- rollenden Brandung ihrer kalten Gischt über den dicht zusammengedrängten Haufen halberfrorener Männer.
Aber sie wissen, daß auf ihren Funkspruch hin eine Gruppe von Vorpostenbooten von Westen her mit hoher Fahrt zu Hilfe eilt, und diese Hoffnung hält sie auf- recht. Endlich, nach langen Stunden des Ausharrens im Schneesturm und in der Kälte, die wie mit Messern durch Kleidung und Haut bis auf die Knochen dringt, beobachten sie nachmittags gegen 16 Uhr zwei Vorpostenboote, die näher kommen, stoppen, und zwei Seemeilen westlich von ihnen zu Anker gehen. Es sind das Mi- nensuchboot -M 225- und ein früheres französisches Vermessungsschiff, jetzt Vorpostenboot -2001-, die ihnen helfen wollen. Vom Minensuchboot wird ein Kut- ter ausgesetzt, der trotz des Seegangs und des Eises heranzukommen sich müht.
Viel zu leichtes Boot, urteilt einer der Männer. Die können das doch nicht schaffen.
Sorgenvoll beobachten sie, wie der Kutter näher und näher heranpullt und nun schon, noch eine Seemeile entfernt, auf halbem Wege draußen am Rand des von der See in steter Bewegung durcheinandergewühlten Packeisfeldes, mit dem Eis kämpft. Ein Schreckensruf gellt:
Er ist gekenntert!
Entsetzt starren sich die Männer der -Rüstringen- an. Was nun? Wird das Vor- postenboot etwas veranlassen, wird es den Kutter zu bergen versuchen, selbst ei- nen Anlauf fahren? Atemlos beobachten sie, wie die Kutterbesatzung, einer nach dem anderen, auf den Kiel ihres gekenterten Bootes kriecht. Das ein Matrose dabei den Tod fand - im eiskalten Wasser versank, ehe er das Boot erreichte - ahnen sie nicht. Sie sehen nur, daß das Boot mit Eis und Flut auf Baltrum zutreibt. Da kommt Bewegung in das zweite Vorpostenboot, den ehemaligen Franzosen. Es lichtet den An- ker, dreht auf und fährt hinter dem gekentert treibenden Kutter des Minensuchers her.
Er pickt ihn auf, ruft jemand. Die Männer werden an Bord gezogen!
Jetzt, wo die Sicht ein wenig besser wurde, können sie die Bewegung jenes Vorposten- bootes verfolgen. Aber was ist das? Das Fahrzeug liegt nun auch mitten im treibenden Eis, ist von Schollen und Eisflächen umgeben - und bewegt sich nicht mehr. Wohl se- hen die gespannt Beobachtenden, wie hinter dem Heck die Schollen durcheinandergewir- belt werden - die Schraube arbeitet wie wild, aber das Schiff macht keine Fahrt. Der sitzt nun auch, sagt einer der Matrosen der -Rüstringen- und versucht mit frostklam- men Fingern eine Zigarette aus der Tasche zu ziehen.
Es stimmt: VP -2001- ist bei der Rettung der Kutterbesatzung des Minensuch- bootes auf der Nordkante des Westerriffs auf 2 bis 3 Meter Wasser festge- kommen. Die -Rüstringen- selbst sackt tiefer und tiefer. Der schneident kal- te Oststurm treibt vier der Männer vom ungeschützten Kartenhausdach auf die Steigringe des einen halben Meter entfernten Schornsteins. Sie erklimmen die Steigeisen an dessen Vorkante und klammern sich an.
Mit einem Male spüren sie, wie das ganze Schiff in ein merkwürdiges Wackeln und Rütteln gerät. Es muß die Luftblase sein, denkt v.Ostheim, die sich in dem schon unter Wasser stehenden Kartenhaus gebildet hat. Kaum ist der Gedan- ke gedacht, als mit dumpfem Poltern das ganze Kartenhaus zusammenbricht und außenbords fällt. 16 Mann - darunter der Kapitän - und drei der Lotsen, fal- len zwischen die Eisschollen ins Wasser und sind sofort verschwunden. Auch die drei Mann, die bisher auf der Back aushielten, sind beim Tiefersacken des Lotsendampfers über Bord gespült worden und ertrunken.
Einer der außen am Schornstein klebenden Männer steigt mühsam hoch, geht auf dem obersten Ring nach achtern, klettert über den Schornsteinrand, steigt die im Inneren an der Achterkante befindlichen Steigeisen hinab und hält sich dort fest. Unten im Schornstein gurgelt bereits das Wasser. Eis hat sich gebildet und die Kälte ist entsetzlich. Schließlich kriechen auch die noch übrig geblie- benen drei Männer, darunter der Lotse v.Ostheim, ins innere des Schornsteins. Wie sie es fertig bringen, zu viert an den kurzen Steigeisen sich festzuhalten, wissen sie selbst nicht. v.Ostheim hat die Führung übernommen. Er bestimmt, daß einer stets eine Stunde mit dem Kopf über'm Schornsteinrand Ausguck zu halten hat und übernimmt selbst die erste Wache.
Schnee wirbelt über sie hinweg. Spritzer fegen herein und der Sturm rüttelt mit stets erneuter Wucht an den dünnen Eisenplatten. Das backbordachtere Stag bricht und von unten steigt das Wasser im Schornstein höher und höher, je tiefer das ganze Fahrzeug im Mahlsand verschwindet. Sie quetschen sich dicht aneinanderge- drängt zusammen. Der Schnee verklebt die Augen, die Kälte läßt ihre Glieder ab- sterben, bildet Eiszapfen an den Lammfellhandschuhen, die einige von ihnen tra- gen. Die Kleidung vereist, manche müssen sich mit nackten Händen am kalten Eisen festhalten, ihre Hände brennen wie Feuer, erfrieren. Ein Matrose, der nur Pantof- fel an den Füßen trägt, erfriert sich die Beine bis zu den Knien. Er wird später zwar gerettet, stirbt aber an den Erfrierungen im Krankenhaus an Land.
Durch Sturm und Gezeitenstrom entstehen zuweilen eisfreie Stellen, dann wirft sich Seegang auf, Brandung rollt heran und überschäumt mit wehendem Gischt Schorn- stein und Männer.
Wohl hören sie Motorengeräusch, beobachten die zu Hilfe gesandten Flugzeuge im Schneetreiben, sehen, wie sie heranfliegen und Schlauchboote abwerfen - die eigenen Boote der -Rüstringen- sind längst zerschlagen, zerdrückt und zersplittert, unbrauchbar geworden, noch ehe man sie aussetzen konnte -, aber die Schlauchboote landen weit entfernt vom Schornstein und treiben nutzlos ab.
Die Männer wissen nicht, das Kapitän zur See Helf, der Lotsenkommandeur in Wilhelmshaven, die Tonnenleger -Mellum- und -Mainz- des Lotsenkommandos von Wilhelmhaven auslaufen ließ. Sie können wegen des Eises nicht herankommen. Ebensowenig , wie die von der Seenotleitung der Deutschen Gesellschafft zur Rsttung Schiffbrüchiger alarmierten Motorrettungsboote von Helgoland und Cux- haven: -Daniel Denker- und -August Nebelthau- , die trotz größter Mühe wegen des Eises ihre Versuche aufgeben müssen.
Auf -Daniel Denker- ist es der berühmte, an der ganzen Nordseeküste bekannte Vormann Rickmer Bock, der den Versuch unternimmt. Bei SO-Sturm, Stärke 10 bis 11 und starkem Frost verläßt er bei einbrechender Dunkelheit - einen im Hafen liegenden Schlepper als Eisbrecher benutzend - den Helgoländer Hafen. Kaum hat das Boot die schützenden Molen verlassen, als der Sturm mit eisharten Krallen nach dem winzigen Fahrzeug greift. Jeder Tropfen, der an Deck kommt, erstart sofort zu Eis. Die Fenster des Ruderhauses frieren Dicht, ein Ausguck wird un- möglich. Da stellen sie einen Mann als Ausguck neben das Ruderhaus, laschen ihn mit Leinen fest und lösen ihn alle halbe Stunde ab, damit er nicht zu Eis er- starrt. Länger als diese halbe Stunde kann es niemand an Deck oder am Ruderhaus aushalten!
In der hohen Sturmsee arbeitet das Boot so schwer, daß der Vormann mit der Fahrt herunter gehen muß. Nach längerer Zeit stoppt Rickmer Bock den Motor und dreht vor die See. Das Eis überzieht wie ein Panzer den ganzen -Daniel Denker- wandelt die Reling zu einer dicken Eiswand und bildet eine unförmige Eiskruste bis zur Mastspitze. Sie muß mit Eisenstangen und Schaufeln von den mit Leinen gesicher- ten Männern losgeschlagen werden.
Sie gehen wieder auf Kurs und nähern sich nach stundenlanger Fahrt der Treibeis- grenze vor den Inseln. Zwar hat der Wind nachgelassen, aber die Dünung bewegt das dicke, unförmige Eis. Wieder müssen sie ihr Boot von dem sich schnell neu bildenden Eispanzer befreien. Dann arbeiten sie sich ins Treibeis hinein, - und stellen nach kurzer Zeit fes, das der Motor kein Kühlwasser mehr bekommt! Das Eis hat sämtliche Saugrohre verstopft. Der Schaden wird behoben, und sie erneu- ern den Versuch, durch den Eisgürtel an die -Rüstringen- heranzukommen. Verge- bens: die dicken Flächen der Eisfelder lassen keinen Weg mehr frei!
Von weitem beobachten sie Lichter von Schleppern und anderen Fahrzeugen, die wegen ihres Tiefgangs nicht an das Wrack herankönnen. Sie nehmen Funkverbindung mit diesen Schiffen auf und hören, daß -Rüstringen- gesunken sei, daß aber ei- nige Männer der Besatzung sich noch im Schornstein festhielten. Eine Seemeile weit steckt nun die -Daniel Denker- im Packeis. Weiter kommen die Retter nicht, die Schollen werden so stark, daß sie, nur noch etwa zwei Seemeilen vom Wrack entfernt, nicht mehr durchkommen können.
Das Boot ist aus Holz gebaut und der Vormann muß außerordentlich vorsichtig manövrieren, um sein Boot nicht am Eis leck zu stoßen. Schon zeigen Steven und Planken erhebliche Schäden. Da entschließt sich der Vormann, um das eigene Boot und die Männer nicht sinnlos zu gefährden, den Versuch als unmöglich aufzugeben. Sie haben getan, was sie irgendwie konnten, er, Rickmer Bock, und der Vormann des Cuxhavener MRB -August Nebelthau- . Beide haben auf dieser vergeblichen Ret- tungsfahrt unbeirrten Mut und hohes seemännisches Können gezeigt. Ihre Schuld ist es nicht, daß sie den letzten Männern der -Rüstringen- keine Hilfe bringen konnten.
Das R E T T U N G S B O O T läuft aus -- 12 M A N N werden geborgen.
Wie von der Wetterwarte vorausgesagt, bessert sich im laufe des Nachmittags die Sicht. Um 15 Uhr 30 meldet der Vormann Kuper aufgestellte Beobachtungs- posten bei der Strandhalle, daß man jetzt zuweilen das Wrack erkennen könne, d.h. Masten und Schornstein der bereits im Mahlsand verschwundenen -Rüstrin- gen-. Kapitän Kuper begibt sich selbst vor Die Strandhalle. Die Eisverhält- nisse sind unverändert geblieben. Er nickt dem Posten zu:
Paß auf die Ebbe wird bald stärker einsetzen. Die nimmt uns das Eis etwas mit zurück und dann werden wir endlich rauskönnen. Müssen noch Geduld haben.
Er geht nach Hause, ruft den Marinehochstand an, und bittet, jede wichtige Beobachtung sofort durchzugeben.
Ihr könnt von da oben mehr sehen als meine Männer in den Dünen, fügt der Vor- mann seiner Bitte hinzu.
Sinnend lehnt sich Kuper in seinen Schreibtischsessel zurück, steckt sich eine Zigarette an, wartet. Um 16 Uhr 25 rasselt das Telefon, eine Mitteilung wird vom Hochstand durchgegeben:
Leutnant der Marineartillerie Heger von der Seenotstaffel Norderney ist vom Hochstand gebeten worden, Beobachtungen des Flugzeugs mitzuteilen. Hat gesehen das -Rüstringen- gesunken ist und...."
Mensch! das Wissen wir doch schon!" unterbricht der Vormann. Weiter, bitte!"
Ich wiederhole ja nur, was der Vogel gesagt hat!" meint ein wenig respektlos und vorwurfsvoll der Posten. Also: Flugzeug hat Schlauchboot abgeworfen. Um 16 Uhr 10 hat es beobachtet, daß zwei Vorpostenboote Kurs auf -Rüstringen- nahmen, aber dann ankerten. Das ist alles.
Haben die Boote etwas veranlaßt? erkundigt sich Kuper.
Bisher nichts bekannt. Ich rufe an, wenn wir selbst hier etwas ausmachen können.
Schön, vielen Dank!
Schon eine Viertelstunde später, um 16 Uhr 40, meldet sich der Hochstand wieder:
Haben im Nordwesten zweites Fahrzeug beobachtet. Liegt zwei bis drei Seemeilen vom Strand auf einer Sanbank mit Schlagseite..."
Waaaas? Ein zweiter ist gestrandet? Menschenskind! Da muß..."
Augenblick!" fällt der Posten ein. Hören sie erst den Rest! Typ des Schiffes nicht auszumachen. Im Hintergrund ist undeutlich, aber mit Sicherheit noch ein Fahrzeug zu sehen. Beobachtung ist nach Wangerooge, ferner an die Seenotzentrale und den Lotsenkommandeur in Wilhelmshaven weitergeleitet worden."
Kaum findet der Kapitän Zeit, sich zu bedanken. Er knallt den Hörer auf die Gabel, reißt die schwere schwarze Lederjacken und das Doppelglas vom Haken, Mütze über'n Schädel gerammt,-- raus. Draußen erkennt er, daß tatsächlich auf der Nordkante des Westerriffs ein Fahrzeug festgekommen ist. Die Eisbarriere am Strand, besonders vor der Strandhalle, hat sich nun soweit gelockert und zurückgezogen, daß vielleicht doch ein Zuwasserlassen des Rettungsbootes hier möglich sein wird. Er kennt ferner, daß es noch immer unmöglich ist, mit einem Boot an die -Rüstringen- heranzukommen. Aber den Menschen auf dem zweiten Fahrzeug, denen kann er Hilfe bringen! Und das will er. Jetzt und sofort.
Um 16 Uhr 55, zum zweiten Male an diesem Tage, heult der Ton des Alarmhorns durchs Dorf. Alles geschieht wie am Morgen, auch die 40 Matrosen stellen sich wieder ein. Eine Stunde später haben sie das Rettungsboot klar zum Zuwasser- lassen an die Stelle des Strandes geschafft, wo eine magere Lücke im Packeis entstand. Es gilt, das schwere Boot über die Barriere der drei bis vier Meter hohen Eisblöcke bis zum freien Wasser zu bringen. Frauen, Männer und Matrosen helfen. Sie zerren, schieben, drücken und ziehen, während einige der Rettungs- mannschaft schon unterwegs die Masten aufrichten und alles zum segeln klarmach- en.
Endlich ist es soweit. Das Boot liegt nach holperigem, äußerst mühsamen Schlep- pen im freien Wasser. Ein paar laut gerufene Anweisungen winken der Zurückblei- benden - das Boot nimmt fahrt auf und gleitet in den eiskalten Abend hinaus. Im Rettungsboot sind: Vormann Hillrich Kuper, Kapitän; Rettungsmann Johann Wil- ken, Dünenvorarbeiter; Rettungsmann Heinrich Wilken, Frisör; Rettungsmann Johann Kuper, Kapitän; Rettungsmann Otto Leiss jr. Kapitän; Rettungsmann Heinrich Wis- smann, Angestellter; Rettungsmann Harm Börgmann, Seemann; Rettungsmann Hinrich Eilts, Bauführer; Rettungsmann Erich Bents, Maler; Rettungsmann Tjard Mannot, Schlosser; Rettungsmann Heinrich Hoffrogge, Frisör; Rettungsmann Alfred Veith, Lokomotivführer.
Unter der Robbenplate, deren Südrand sie passieren, steht Seegang. Brecher lassen ihre Gischt über das Boot fegen. An den Mänteln der Männer bilden sich Eisklumpen, aus den schweren Lederhandschuhen tropft das Wasser, an den Fingern bilden sich Eiszapfen. Eisblöcke drehen sich tanzend vorüber und es bedarf des ganzen seemän- nischen Geschicks des Vormannes, rechtzeitig auszuweichen und trotzdem seinen Kurs frei von den tückischen Sänden zu halten. Glücklicherweise weht der Wind günstig, sie kommen rasch vorwärts. Ein Seenotflugzeug kreist eine Weile über ihnen und fliegt dann mit dröhnendem Motor nach Osten davon. Erschüttert sehen die Rettungs- männer, wie aus dem Schornstein der versunkenen -Rüstringen- gewinkt wird. Kuper hebt mit der freien Hand das Glas, drei, vier Köpfe kann er drüben ausmachen.
Sind noch drei oder vier Mann, ruft er seiner Besatzung zu. Seht Euch das Eis an, in dem sie stecken: unmöglich, da jetzt heranzuzukommen!"
Sie nicken, es ist völlig unmöglich, das sehen sie selbst. Grauenhaft. Hoffentlich kann den Schiffbrüchigen von See her Hilfe gebracht werden. Irgend etwas wird ja wohl veranlasst worden sein, vom Lotsenkommandeur, der Seenotstelle der Marine, denken sie und wissen, daß nichts ungeschehen bleiben wird, was menschenmöglich ist, um auch diesen Männern zu helfen. Nur sie selber sind im Augenblick nicht imstande, etwas für sie zu tun - -
Um 18 Uhr 20 macht das Rettungsboot bei dem zweiten gestrandeten Schiff, dem Vor- postenboot -2001- fest. Es ist durch übergekommende Brecher völlig vereist und sitzt, umgeben von treibenden Eisschollen und Packeisflächen, auf der Zweimeterlinie des Westerriffs fest.
Hochseefahrer, sagt Rettungsmann Wissmann zu dem neben ihm auf der Ducht ( Sitzbrett in einem Ruderboot ) hockenden Rettungsmann Otto Leiss. Kennen warscheinlich unsere gefährlichen Sände vor den Inseln nicht.
An der weiß mit Eis gepanzerten Reling zeigen sich ein paar der 34 mann star- ken Besatzung des Vorpostenbootes. Über die Brückenreling gebeugt, eine blaue, gestrickte Fischer-Pudelmütze über'm Schädel, in einen schweren, knöchellangen Mantel ohne Abzeichen gehüllt, ruft der etwa 40 jährige Kommandant den Vormann an:
Was wollen Sie denn hier?
Verblüfft sieht Kuper erst den Kommandanten und dann seine eigenen Männer an. Weiß der da oben denn nicht, im was für einer höchst gefährlichen Lage sich sein Boot befindet? Der Vormann winkt seinem Bruder Johann und ein paar ande- ren, entert hoch und steigt, auf dem eisglatten Deck mehrfach ausgleitend, auf die Brücke:
Kapitän Kuper, Vormann des Langeooger Rettungsbootes. Ich will Ihre Männer ab- bergen, soviele ich mitnehmen kann.
Unwillig sieht der Marinemann den Friesen an, der da so gelassen vor ihm steht und diesen höchst unerwarteten Vorschlag macht.
Aber warum denn nur? Ich lasse Winkspruch an das M-Boot machen und mit FT wei- tergeben, will Pumpendampfer und Schlepper bestellen. Habe Wasser im Schiff, Motoren und alles ausgefallen. Aber das ist doch kein Grund, hier...."
Nun wird Kuper ungeduldig.
Ich will Ihnen mal was sagen!" erklärt er und seine Stimme ist erheblich schär- fer als sonst. Gestern erst ist ein Schlepper im Eisgang auf der Ems gesunken. Niemand konnte ihm helfen. Sie liegen hier auf Mahlsand, genau wie die -Rüstrin- gen- drüben. Sie sahen doch, wie schnell die abgesackt ist. Sie werden in weni- gen Stunden ebenso erledigt sein. Hören sie auf mich. Wir sind hier zu Hause und kennen die Tücke unserer Sände.
Der Kommandant schweigt, zuckt die Schultern und sieht sich diesen energischen Vormann etwas genauer an. Nein, übertreiben tut der gewiss nicht. Sieht nicht so aus. Wird wohl besser sein, auf ihn zu hören.
Ich habe Leute mit Erfrierungen, meint der Kommandant noch etwas zögernd. Besat- zung eines Kutters von dem da drüben, er weißt nach -M225- hinüber, die ich aus dem Wasser fischte, als sie der -Rüstringen- zu Hilfe kommen wollten und dabei kenterten. Ich lief hinterher, rettete die drei und kam dabei selbst auf Dreck. Auch unter meinen eigenen Männern sind ein paar mit bösen Erfrierungen. Ist ver- dammt kühl hier, seit ich ein Leck bekam und das Wasser einen Meter über den Flurplatten des Motorenraums steht. Die Motoren sind nicht mehr betriebsfähig. Verschiedene Kammern stehen auch schon unter Wasser. Meine Funkanlage ist gestört.
Er lächelt jetzt und macht zur Bestätigung mit der Rechten eine umfassende Bewe- gung über sein Boot. Ernst nickt der Vormann.
Wieviele können Sie mitnehmen?" fragt der Kommandant.
Höchstens zehn, erkärt Kuper, habe selbst 12 Mann Besatzung.
Der Kommandant zieht die Stirn in Falten. Die Gefährlichkeit seiner Lage ist ihm offensichtlich nun doch klar geworden. Schnell lenkt der Vormann, der das Zögern des anderen wohl bemerkte, ein:
Ich nehme sofort zehn von Ihren Männern mit, Verletzte natürlich. Werde versuchen zurückzukommen, den Rest abzuholen. Geben Sie aber nicht eher Notsignale, ehe nicht wirklich Not am Mann ist! Sie sehen selbst, wie schwierig für uns die Fahrt sein wird zwischen diesem Eis und bei dem Gezeitenstrom.
Der Kommandant ist jetzt überzeugt. Er bestimmt schnell die Männer, die in das Rettungsboot sollen. Die Übernahme der Verletzten beginnt.
Zunächst kommen die drei Geretteten vom Kutter dran, die schwere Erfrierungen haben. Sie tragen noch Ihre steifgefrorenen Schwimmwesten und haben verfrorene, verzerte Gesichter. Einer hängt mit zerschundenen Fingern am Tau, kann sich kaum halten. Von den Verletzten des Vorpostenbootes hat einer nur Drillichjacke und -hose, weder Hemd noch Unterhose an. Er hielt bis zuletzt im Motorenraum aus, als das Wasser stieg und alles überflutete. Siene Hände und Füße sind erfroren. Die Rettungsmänner ziehen den Ünglücklichen alle noch verfügbaren Ölmäntel und -hosen an, legen sie auf den Boden des Bootes und decken sie, so gut es geht, mit Ölzeug zu. Statt der zehn Mann, die er überzunehmen versprach, hat der Vormann jetzt bereits zwölf im Rettungsboot.Er selbst steht längst, die Ruderpinne in der Rechten, wieder im Stern. ( seemännisch der hintere Teil in einem offenen Boot )
Abstoppen! Sofort abstoppen!" ruft er hinauf. Mehr fast das Boot nicht! Wir haben ja kaum noch Freibord!" ( der Abstand zwischen Wasserlinie und Deck )
Die Restbesatzung von -2001- gehorcht und tritt von der Reling zurück. Ein alter Oberfeldwebel hebt bittend die Hand:
Nehmt mich noch mit, Kameraden, ich hab' Kinder zu Hause!"
Aber Kuper lehnt ab. Er muß im Intresse der 24 Mann, die nun im Boot sind, und um der Sicherheit des Bootes willen hart sein. Es ist unmöglich, noch mehr an Bord zu nehmen,- ebenso unmöglich, wie vorhin die Hilfe für die Ünglücklichen der -Rüstrin- gen- .
Ablegen!" ruft er laut. Das Boot ist schon überfüllt. Wir kommen zurück, wenn möglich. Los ablegen!"
Halt, Moment noch!" läßt sich der Kommandant vernehmen, der, von der Brücke herunter- kommend, zu den Männern an der Reling tritt und eine Flasche Schnaps ins Boot reicht. Sie wird grinsend in Empfang genommen und nach achtern gegeben, während Vor und Ach- terleine losgeworfen und eingeholt werden. Das Boot legt ab.
Die Geretteten sind: von -M225- : Leutnant zur See von Hohenberg; Matr. Gefr. Kast; Matr. Hemmerich. Von Vorpostenboot -2001- Matr. Hauptgefr. von der Mann; Matr. Ober-gefr. Kurschat; Matr. Obergefr. Küster; Matr. Gefr. Heinscher; Matr. Gefr. Dienfelder; Funk Gefr. Hilscher; Funk. Gefr. Jakobs; Matr. Grimm; Matr. Weiss.
Es ist 18 Uhr 45. Das Boot ist schwer beladen. Eigentlich viel zu schwer für die grau- enhafte Fahrt durch's Eis, die ihnen bevorsteht. Wind und Ebbstrom, beides von Osten, sind sehr ungünstig. Dazu 14 Grad Frost. Kuper läßt zur Heimfahrt alle drei Segel set- zen.
L E B E N S G E F Ä H R L I C H E--F A H R T und glückliche L A N D U N G
Zunächst versucht der Vormann durch die Rinne zwischen den Bänken des Wester- riffs das tiefe Fahrwasser der Accumer Ee zu erreichen. So sehr es sich müht, gegen den immer stärker laufenden Ebbestrom und den Ostwind anzukreuzen - es mißlingt. Kurz entschlossen geht er zu Anker. Lieber die Flut abwarten, das steigende Wasser, denkt er, als hier, wo noch dazu durch den schon längere Zeit wehenden Oststurm der Wasserstand einen Meter unter den Normalstand gefallen ist, unver- sehens auf das gefährliche Riff getrieben zu werden. Alle Insulaner an Bord wissen, dap dies den Tot bedeuten würde, daß sie alles daran setzen müssen, ins tiefe Fahrwasser zu gelangen, das zwischen Baltrum und Langeoog ins Watt führt.
Endlich ist es soweit. Die Flut setzt ein. Kuper läßt Segel setzen, geht anker- auf und sie kämpfen drei und eine halbe Stunde lang, das Boot ins Wasser zu zwin- gen. Mit der Flut kommt aber auch das Treibeis zurück. Bald müssen sie die Riemen, die sie stellenweise zur Ünterstützung der Segelmanöver ausbrachten und gebrauch- ten, einnehmen. Das Eis umklammert sie von allen Seiten. Aber sie haben es dank der Seemannschaft des Vormanns geschafft; sie treiben wenigstens mit der Flut im Fahrwasser. Das Boot steht, wenn auch bewegungsunfähig, immerhin über 20 Meter tiefen Wasser frei von den Sänden.
Der Kapitän läßt die Segel wegnehmen und die Schnapsflasche gegen die mörderische Kälte kreisen. Er hat Heute nicht wie sonst Rum mitgenommen, und als er die Fla- sche an den Mund setzt und einen langen Schluck nimmt, fährt er zusammen. Eine vereiterte Zahnwurzel, die ihm schon den ganzen Tag zu schaffen machte, nimmt das ungewohnte -Danziger Gold- des Vorpostenkommandanten äußerst übel. Fluchend spuckt der Vormann und reicht die Flasche mit schmerzverzerrtem Gesicht schleunigst wei- ter.
Eine stockdunkle Nacht ist hereingebrochen. So treiben sie im überfüllten, offenen Boot ohne Schutz gegen Kälte und Wind mit dem Eis südwärtz. Von Zeit zu Zeit rüt- teln sie die Kranken, versuchen sie zu bewegen, zu reiben, wach zu halten, um sie vor dem Erfrierungstot zu bewahren. Die abgeschlagenen Segel, in deren steifgefro- renes hartes Tuch sie die Verletzten und sich selbst hüllen, halten die entsetzlich schneidende Kälte nicht ab. Irgendjemand hat noch eine Flasche Cognac. Er schlägt ihr den Hals am Dollbord ( der obere verstärkte Rand eines Ruderbootes mit den Aus- höhlungen ( Dollen ) zur Führung der Ruder ( Riemen ) ab und teilt brüderlich den Inhalt mit allen im Boot. Die wenigen, nicht naß gewordenen Zigaretten werden her- vorgekramt, ebenfalls verteilt und angezündet.